Teil I

Zu Intention und Gebrauch des Modells

(Klicken Sie die hochgestellten Zahlen an, um die Fußnoten in einem gesonderten Fenster zu lesen!)

Das Unterrichtsmodell versucht, am Beispiel der Afro-Amerikaner in den USA die Beziehungen zwischen ökonomischer Struktur und Entwicklung der Gesellschaft, Sozialisationsprozessen und möglicher Emanzipierung darzulegen. Die Geschichte der Afro-Amerikaner wird verstanden als Versuch einer ausgebeuteten Gruppe, sich von der Ausbeutung und damit von einem durch die Interessen der Herrschenden geprägten, von den Ausgebeuteten lange internalisierten Sozialcharakter zu emanzipieren. (Bewußt wird hier nicht mehr, wie in den vom »Neuhumanismus« geprägten neueren Schulbüchern, von »Unterdrückung« gesprochen; ein Ziel des Modells ist es vielmehr, gesellschaftliches Leiden auf präzisere Begriffe zu bringen.)

Die Prägung des Sozialcharakters erfolgt in den verschiedenen Institutionen und Instanzen des Sozialisationsprozesses:

»... Dieser Charakter geht aus der Einwirkung der gesamtgesellschaftlichen Institutionen hervor, die für jede soziale Schicht in eigentümlicher Weise funktionieren. Der Produktionsprozeß beeinflußt die Menschen nicht nur in der unvermittelten und gegenwärtigen Gestalt wie sie ihn selbst bei ihrer Arbeit erleben, sondern auch, wie er in den relativ festen, das heißt sich nur langsam umbildenden Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, Kunstanstalten und dergleichen aufgehoben ist. Zum Verständnis des Problems, warum eine Gesellschaft in einer bestimmten Weise funktioniert, warum sie stabil ist oder sich auflöst, gehört die Erkenntnis der jeweiligen psychischen Verfassung der Menschen in den verschiedenen sozialen Gruppen, das Wissen darum, wie sich ihr Charakter im Zusammenhang mit allen kulturellen Bildungsmächten der Zeit gestaltet hat. Den ökonomischen Prozeß als bestimmende Grundlage des Geschehens aufzufassen heißt, alle übrigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens in ihrem sich verändernden Zusammenhang mit ihm betrachten und ihn nicht in seiner isolierten, mechanischen Form, sondern in Einheit mit den freilich durch ihn entfalteten Fähigkeiten und Dispositionen der Menschen begreifen.« (Max Horkheimer, Autorität und Familie, in: Traditionelle und Kritische Theorie, Frankfurt/Hamburg 1970, S. 168.)

Der Doppelcharakter der durch Vermittlung der gesellschaftlichen Normen- und Wertsysteme den Sozialcharakter prägenden Sozialisationsinstanzen (als Beispiele: Musik, Sport, Werbung, vgl. Band I*) und -Institutionen (als Beispiele: Familie, Schule, Armee, vgl. Band II*), der sich aus ihren spezifischen Funktionen ergibt: je nach den Entwicklungstendenzen von Produktivkräften und Produktionsmitteln Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, zugleich aber die Rechtfertigung bzw. Duldung des Widerspruchs von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung zu erreichen, - dieser Doppelcharakter bedingt eine unterschiedliche und ungleichzeitige Entwicklung der technisch-organisatorischen Struktur und des Ideologiebereichs der Sozialisation.

Kein Unterrichtsmodell kann selbstverständlich von sich aus Emanzipierungsversuche der Zielgruppe in Gang setzen; es kann aber an der Entstehung von Voraussetzungen für emanzipatorisches Handeln mitwirken: der Unterricht kann anhand der Widersprüche in den Erscheinungsformen kapitalistischer Herrschaft Sensibilität und Interesse für politische, ökonomische, soziologische und psychologische Fragestellungen fördern. Dabei sollen bei der exemplarischen Arbeit über den Rassenkonflikt in den USA Einsichten in die Ziele und Wege der eigenen Sozialisation und deren Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung gewonnen und die Qualität von Fmanzipationsansätzen eingeschätzt werden können.

Die einzelnen Unterrichtseinheiten sind nach Aufbau und Inhalt so angelegt, daß auch die intensive Beschäftigung im Unterricht mit nur einer Einheit das Lernziel und den exemplarischen Charakter des Vorgehens weitgehend herausarbeiten kann. Gleichwohl wäre auch bei einer solchen Lernstrategie die Lektüre der anderen Einheiten sinnvoll, schon wegen des dort diskutierten Materials. Die vorgeschlagenen Einstiegstexte und Themen der Unterrichtseinheiten versuchen, Interessen und Bedürfnisse von Schülern aufzugreifen. Allerdings mögen Thematik und Methoden die Interessen und Kenntnisse eines einzelnen Lehrers überfordern. Deshalb und auch im Interesse eines Durchbrechens der strengen arbeitsteiligen Fachaufgliederung an den Schulen, die kaum Einsicht in Zusammenhänge und Widersprüche von »Fachkenntnissen« ermöglicht, ist ein kooperativer Unterrichtsstil unabdingbar: fächerübergreifender Unterricht und aktives Einbeziehen der Schüler in die Unterrichtsplanung. Trotz der Variabilität der Methode ergibt sich aus dem Zusammenhang der Einheiten eine Geschichte der Afro-Amerikaner, deren Fakten sich nicht nur chronologisch lesen lassen, sondern auch poltisch-ökonomische und soziokulturelle Bezüge offenlegen.

Die einzelnen Unterrichtsschritte werden in ihrem Ablauf (Didaktik) und vom Inhalt her (theoretischer Anspruch) zusammenfassend beschrieben. Der Verg1eich mit den Informationen aus den je anderen Unterrichtseinheiten kann zu einer Beschreibung von Sozialisationsprozessen in spätkapitalistischen Gesellschaften führen, wie sie etwa im folgenden Abschnitt dieses einführenden Kapitels gegeben wird. Um die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Unterrichtseinheiten sichtbar zu machen und auch eine horizontale Benutzung des Gesamtmodells zu ermöglichen, finden sich in den einzelnen Einheiten zahlreiche Querverweise (unter Einbeziehung von Band II), die durch > kenntlich gemacht sind.

THEORETISCHE BESCHREIBUNG EINIGER SOZIALISATIONSINSTANZEN UND -VORGÄNGE

In der folgenden Darstellung des Sozialisationsprozesses unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen kann dessen Problematik nur fragmentarisch skizziert werden, da bisher nur bruchstückhaft Ergebnisse von theoretischer und empirischer Arbeit zu diesem Problemkomplex vorliegen.

Gefragt wird zunächst, welche Konsequenz die äußere Struktur eines Wirtschaftssystems, das charakterisiert ist durch gesellschaftlich nicht kontrollierte Profitmaximierung, für die äußere organisatorische Struktur der einzelnen Sozialisationsinstitutionen hat und wie die industrielle und bürokratische Arbeit in diesem Wirtschaftssystem das Normen- und Wertsystem prägt, das in den einzelnen Sozialisationsinstitutionen und -instanzen vermittelt wird.

»Die streng hierarchische Struktur der Betriebe und Bürokratien garantiert durch ihre genaue Abgrenzung der Kompetenzen und die Überbetonung der Kommunikation von oben nach unten eine möglichst strikte Befolgung der meist minuziösen Anweisungen und läßt den Angewiesenen kaum Chancen einer Frage nach dem Sinn ihrer Arbeit, geschweige denn einer Kontrolle der Macht, die über sie ausgeübt wird.1

»Allgemeine Kriterien der Arbeit in Industrie und Verwaltung sind die Entfremdung der Arbeitenden vom Produkt ihrer Arbeit, die Fremdbestimmung des Inhalts und der Form ihrer Tätigkeit sowie die Zersplitterung der Arbeitsvorgänge pro Arbeitsplatz bis hin zur monotonen Wiederkehr des Immergleichen.«2

In erster Linie sind es »die im Arbeitsprozeß gewonnenen Erfahrungen, die, modifiziert durch andere Faktoren wie etwa religiöse Überzeugungen, im familieninternen Sozialisationsprozeß weitergegeben werden«.3 Diese Erfahrungen prägen auch das Freizeitverhalten, das in seinem Auftreten als lediglich private, subjektive Befreiung von der Repressivität der Arbeitswelt auf diese bezogen bleiben muß und somit für das ökonomische System verwertbar bleibt (s. S. 25 f.) und auch inhaltlich von den Interessen und Mechanismen der Kapitalverwertung bestimmt ist.

»Die generelle Aussage über den Charakter der Arbeit bedarf einiger Differenzierungen, da nicht alle Gruppen der abhängig Arbeitenden in gleicher Weise dem Druck des autoritär gehandhabten Leistungsprinzips ausgesetzt sind. «4

»So unterscheiden sich Arbeitsvollzüge und Arbeitsbedingungen der Angestellten und Beamten in wesentlichen Punkten von denen der Arbeiter.«

»Die Stellung der Arbeiter im Produktionsprozeß wird dadurch bestimmt, daß sie, vorwiegend manuell tätig, allerdings zunehmend körperlich entlastet durch Maschinen, direkt an der Produktion von Gütern beteiligt sind. Die Arbeitsvollzüge, die von den Arbeitern in der Industrie verlangt werden, wirken infolge der geforderten körperlichen Leistung und dem oft »maximalen Zwang zur minimalen Konzentration« besonders ermüdend. Der Horizont möglicher Erfahrungen im Arbeitsprozeß ist durch eine diffizile Arbeitsteilung eng begrenzt; der Rhythmus der Arbeit wird durch Maschinen weitgehend vorgegeben ... «.5

Untersuchungen über das Gesellschaftsbild der Arbeiter lassen erkennen, daß sich ein großer Teil resignativ mit den herrschenden Verhältnissen abgefunden hat; ein Ergebnis, das gewiß noch durch die integrative Rolle der Gewerkschaften, die so sozialisierend wirken, gefördert wird.

»Die Stellung der Angestellten im Produktionsprozeß läßt sich dadurch kennzeichnen, daß sie, vorwiegend durch Arbeit mit Symbolen, die Kontrolle der Vorbereitung, Durchführung und Verwertung der Produktion zu leisten haben. In anderen Wirtschaftszweigen und in Teilen der Exekutive verwalten sie gemeinsam mit Beamten in ähnlicher Weise Dienstleistungen, in den nicht leistenden Zweigen der Exekutive sind sie Sachverwalter der Ansprüche der öffentlichen Hand. Eine recht gravierende Differenz zu den Arbeitern entsteht dadurch, daß ihre relativ größere Nähe zu den Inhabern der Macht ihnen eine größere Identifikationschance mit diesen gibt.

... die Entfremdung wird durch den abstrakten Charakter der Tätigkeit besonders belastend und scheint nur dadurch erträglich zu werden, daß eine ebenso abstrakte Identifikation mit dem Betrieb oder der Verwaltung vorgenommen wird, die einen Ersatz für mangelnde Chancen der Selbstverwirklichung durch die Arbeit bietet, verbunden mit der Möglichkeit, einen eigenen Standort in der Gesellschaft zu finden.«6

Im folgenden sollen »die Konsequenzen, die die Situation der verschiedenen Berufsgruppen im Arbeitsprozeß und die darauf aufbauende Interpretation ihrer Stellung in der Gesellschaft für Ziel, Inhalt und Form der von ihnen praktizierten Sozialisation ihrer Nachkommen hat,«7 erörtert werden.

Die Familie ist heute eine Sozialisationsinstanz der Gesellschaft, die »fast durchweg unreflektiert das weitervermittelt, was sie beispielsweise an normativen Impulsen von außen erhält«8 Sie vermittelt bestimmte Verhaltensweisen, Normen und Wertvorstellungen, sowie sprachliche und - eng damit verknüpft - kognitive Fähigkeiten.

Die gegenwärtige Funktion der Familie, die durch ihre Struktur erleichtert wird, »hat einen doppelten Aspekt: einmal tradiert sie, . . . , direkt in ihren Sozialisationszielen und -techniken die gesellschaftliche Ungleichheit, zum anderen bietet sie Kompensationschancen für Versagungen aus der Arbeitswelt dadurch an, daß in ihr das Ausleben gestauter Affekte möglich ist und toleriert wird«.9

Die erhebliche Bedeutung der vollständigen Familie »resultiert aus dem Erziehungsmonopol der Eltern für die frühkindliche Phase, die nach den Ergebnissen der Psychologie eine ausschlaggebende Zeit der Prägung der Grundstruktur der Persönlichkeit ist«.10

»Die Familie besorgt, als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen, die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben fordert und gibt ihnen zum großen Teil die unerläßliche Fähigkeit zu dem spezifisch autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung weitgehend abhängt.«11

Denn vom Verhältnis zwischen dem Individuum und den nächsten Bezugspersonen, deren Anzahl sich mit zunehmendem Alter des Kindes vergrößert, hängt es ab, ob das Kind seine Bedürfnisse in ausreichendem Maße befriedigen und ob es die auftretenden Konflikte seiner Triebe mit der triebversagenden Umwelt erfolgreich bestehen kann.

Besonders wichtig ist zunächst das affektive Verhältnis zwischen Mutter und Kind, denn nur bei genügender Zuwendung kann das Kind das »Urvertrauen«12 erwerben, das Grundlage für die Übernahme von sozialen Fähigkeiten ist. Später sind Häufigkeit und Beschaffenheit der Kontakte mit den Mitgliedern der Primärgruppe und natürlich deren eigene sprachliche Fähigkeiten entscheidend für das Erlernen der Sprache und den Erwerb kognitiver Fähigkeiten. Die vermittelten Wertvorstellungen und Verhaltensnormen sind, ebenso wie die Sprache, die erlernt wird, und die affektive Bindung zwischen dem Kind und primären Bezugspersonen wesentlich durch die Schichtzugehörigkeit einer Familie bestimmt.

Aus den spezifischen Erfahrungen im Arbeitsprozeß, aus der Einschränkung der Erfahrungsmöglichkeiten, die durch geringe Aufstiegschancen verschärft wird und längerfristige Planungen erschwert, erklärt sich die Apathie der Unterschicht wie auch die autoritäre Charakterstruktur der Mehrzahl der ihr Angehörenden; diese kommt u. a. in der Erziehung der Kinder zu möglichst konformem Verhalten13 durch ständige Kontrolle, direkte Anleitung, Überbetonung von Gehorsam als Tugend und starke Fixierung auf Äußerlichkeiten wie Reinlichkeit und adrette Erscheinung14 - Eigenschaften, die »für ein erfolgreiches Leben innerhalb ihrer eigenen Kultur besonders entscheidend und problematisch«15 sind - zum Ausdruck, und sichert, daß die nächste Generation wieder die ihr zugewiesene Rolle im Produktionsprozeß widerspruchslos hinnimmt.

Der Vater der Unterschichtfamilie regiert die Familie überwiegend aufgrund physischer Stärke und ökonomischer Machtposition. Diese die tatsächliche Ausbeutung und Ohnmacht in der Gesellschaft nur notdürftig und nur auf Zeit verdeckende Herrschaft des Vaters nimmt dem Kleinkind gegenüber die Autoritätsstruktur der Gesellschaft vorweg und in die Familie hinein. Das Kind erfährt »die erste Ausbildung für das bürgerliche Autoritätsverhältnis«16. Der Vater besteht umso nachdrücklicher auf dieser Machtposition, je größer die Unterdrückung ist, der er selbst ausgesetzt ist; denn nur so kann er deren Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl kompensieren. Er gibt sie in unterschiedlicher Weise an Frau und Kinder weiter,17 wird zum Agenten dessen, worunter er selbst so leidet.

»Eine rigide, an traditionellen Geschlechtsrollendefinitionen orientierte Kompetenz- und Rollentrennung zwischen den Ehepartnern ist für die Unterschicht mehrfach nachgewiesen worden. Entsprechend häufiger ergeben sich in diesem Milieu Ehekonflikte und zerrüttete Familienverhältnisse.... Diese Konflikte werden nicht in innerf amilialer Diskussion gelöst, sondern enden jeweils im Rückzug der Partner in ihre ›peergroups‹18. « (s. S. 15)

Die sich scheinbar widersprechenden soziologischen Beschreibungen der Rollenkonstellation in der Unterschichtfamilie, in denen der Vater als autoritär und die Mutter gleichzeitig als dominant erscheinen (vgl. Literaturbericht bei Oevermann, a. a. O.) werden verständlich, wenn man den Widerspruch von überkommener Rollenkonstellation und ökonomischer Funktion der Familienmitglieder berücksichtigt.

»Dem Vater wird zwar normativ die Führerrolle - vor allem in seiner wichtigsten Eigenschaft als Broterwerber - zugebilligt, . . . , aber faktisch ist die Mutter innerhalb der Familie die dominante Figur, so daß mit einigem Recht vom ›Matriarchat‹ der Unterschicht gesprochen werden kann. . . . Je trostloser die sozialen Lebensbedingungen in der Unterschicht, desto mehr tritt der Vater in den Hintergrund, wird die ›Mum‹ zur zentralen Figur.«19

Unvollständige oder zerstörte Ehen, der dann folgende häufige Wechsel der Bezugspersonen und die Erziehungsmängel in den unvollständigen Familien werden unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu verursachenden Faktoren für milieubedingte Fehlentwicklungen der Charakterstruktur in den frühesten Kindheitsjahren.

»Ob die Entwicklungsstörung neurotischer Art ist oder ob sie über Schwererziehbarkeit zur Verwahrlosung oder Kriminalität führt, hängt von Art, Dauer, Intensität und Zeitpunkt des Beginns einer jeweiligen Milieustörung ab.«20

Die sogenannten Resozialisierungsinstanzen wie Heime und Gefängnisse, aber auch schichtenhomogen zusammengesetzte ›peer groups‹ (s. S. 15) und das herkömmliche Schulsystem wirken auf diese Fehlentwicklungen eher verstärkend.

»Die Verhaltensmuster der Mittelschichtfamilie müssen im Zusammenhang mit dem Zcrfall der bürgerlichen Familie gesehen werden. Dabei ist es wichtig, zwischen dem Teil der Mittelschicht zu unterscheiden, der kaum vom sozialen Abstieg bedroht ist und dessen berufliche Position tatsächlich noch relativ weitgehend durch aktiv manipulierende individuelle Verhaltensweisen beeinflußbar ist und gleichzeitig eine kritische Distanzierung und damit das Erkennen gesamtgesellschaftlich bedingter Widersprüche erlaubt, und dem Teil der Mittelschicht, der die Angestellten des unteren und mittleren Bereichs umfaßt, für die diese Möglidikeiten weitgehend nicht zutreffen.«21

Die Familie der heutigen oberen Mittelschicht tendiert - in der Tradition der bürgerlichen Familie - zur Erziehung des Kindes zur Selbständigkeit, Selbstkontrolle, Wißbegierde, zu vernunftkontrolliertem Handeln, Kreativität, Leistungsstreben und - damit verbunden - der Fähigkeit, auf unmittelbare Gratifikationen verzichten zu können; sie ist affektiv wärmer und auf das Kind bezogen.22 Affektive Zuneigung und einsichtig gemachte Zurückweisung werden eher als in der Unterschicht kontrastierend eingesetzt.

Diese Normen und Verhaltensweisen lassen sich aus der Tradition der bürgerlichen, einer scheinbar selbständigen, unabhängigen Familie und aus den Anforderungen der typischen Mittelschichtberufe erklären, die vor allem Initiative, Selbstverantwortlichkeit, kognitive Differenzierung und Selbstkontrolle23, d. h. eine Verinnerlichung von Normen verlangen, so daß eine ständige Disziplinierung unnötig wird.

»In der unteren und mittleren Mittelschicht dagegen führen die aus der beruflichen Sphäre stammenden Identitätsbedrohungen zu ungleich rigideren Verhaltensmustern. Die dauernd geforderte Selbstkontrolle bestimmt sowohl die Ehepartner- als auch die Eltern-Kind-Beziehungen. «24

Die fortschreitende Konzentration des Kapitals und die damit einhergehende Verproletarisierung der ehemals Selbständigen hatte zur Folge, daß aus dem anscheinend unabhängigen Vater, dessen Leistung das Kind vor Augen hatte, und der der Besitzer »vererbbarer Güter und Verfügungsgewalten«25 war, der »unsichtbare«26 Vater wurde, der an einem anderen sozialen Ort durch entfremdete, fremdbestimmte Arbeit den Lebensunterhalt der Familie verdiente. Doch in der Familie versucht der Vater noch immer - bedingt durch die eigene Sozialisation (und die der Mutter) und durch rechtliche Regelungen - die Rolle des allmächtigen Ernährers, des nacheifernswerten Vorbildes auszufüllen. Daß diesem Anspruch die materielle Grundlage seiner Realisierung fehlt, stellt das Kind sehr bald fest, ist der Vater doch - gerade wegen seines Festhaltens an Fiktionen - unfähig, dem Kind zu helfen, zwischen seinen individuellen Ansprüchen und den gesellschaftlichen Zwängen durch eine empirisch und begrifflich vermittelte Auseinandersetzung mit der Gesellschaft einen Kompromiß zu finden, und ihm so die Ausbildung einer Charakterstruktur zu erleichtern, die realitätsgerechtes Handeln ermöglichen könnte.27

»Das Kind bringt aus der Beziehung zum Vater nur noch die abstrakte Idee willkürlicher, unbedingter Macht und Stärke mit und sucht nach einem stärkeren, mächtigeren Vater als dem realen, der jenem Bild nicht mehr Genüge tut, einem Übervater gleichsam. wie ihn die totalitären Ideologien produzieren. Der Vater wird durch kollektive Mächte wie die Schulklasse, die Sportmannschaft, den Club, schließlich den Staat ersetzt. Die jungen Menschen zeigen Neigung, einer jeglichen Autorität, was immer auch ihr Inhalt sei, sich zu unterwerfen, wofern sie nur Schutz, narzißtische Befriedigung, materiellen Gewinn und die Möglichkeit bietet, an anderen den Sadismus auszulassen, in dem sich unbewußte Ratlosigkeit und Verzweiflung verstecken.«28

In diesem Zusammenhang kommt für den Sozialisationsprozeß den Gruppen gleichaltriger Kinder und jugendlicher, den sogenannten peer groups, besondere Bedeutung zu.

»Ihren Mitgliedern erleichtern sie die Lösung von der Familie; gesellschaftlich gesehen   scheinen ihre Funktionen dabei jedoch weitgehend denen der Familie zu entsprechen: sie leisten, schichtenhomogen zusammengesetzt, vorwiegend eine schichtenspezifische Anpassung an die gegebenen Verhältnisse in Formen, die vom Spiel bis zur Leistungskonkurrenz reichen,«29

und unter besonderen Umständen Kriminalität begünstigen, aber auch zu politischer Solidarität führen können.

Die relativ früh entstehenden peer groups ermöglichen dem Einzelnen die Zuordnung zu einem kollektiven Identitätsbereich, der zum Ersatz für mangelnde individuelle Identität werden kann. Diese Kollektive bieten Schutz gegen Außeneinflüsse und geben dem Einzelnen Bezugspersonen außerhalb der Familie, in der die individuellen und emotionalen Zuwendungsmöglichkeiten auch durch die zunehmende Wiedereinbeziehung der Frauen (Mütter) in den Arbeitsprozeß weiter eingeschränkt werden. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Möglichkeit, sich aus der Familie in peer groups zurückzuziehen, in weitaus größerem Ausmaß für die Jungen besteht. Die Mädchen werden schon sehr früh und stärker für Haushaltsarbeiten herangezogen, ohne daß ihnen dabei selbständige Entscheidungen zugestanden werden.30

Die Unterschichtfamilie vermag es weder, ihren Kindern die nunmehr verstärkt notwendig werdenden Grundvoraussetzungen für die Erhöhung der Qualifikationsstruktur der Produktivkraft Arbeit (wie differenzierte Sprache und höhere kognitive Fähigkeiten) zu vermitteln, noch gibt sie ihren Kindern die Voraussetzungen zur selbständigen Verbesserung ihrer Qualifikationen.31 Dabei stehen in der gegenwärtigen Diskussion die schichtenspezifischen Differenzierungen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs mit im Vordergrund.

Kennzeichnend für die Sprache der Unterschicht ist ein Mangel an logischer Komplexität, der sich u. a. in der Unsicherheit bei der Wortwahl äußert. Diese Unsicherheit wird immer stärker, je abstrakter ein zu beschreibender Sachverhalt wird, während in der dinglich-konkreten Beschreibung ein »Reichtum expressiver und konkret-deskriptiver Bezeichnungen«32 in der Unterschichtsprache aufzufinden sind. Da die tradierte soziale Rolle gerade durch sprachliche Stereotype und Klischees vermittelt und so unreflektiert übernommen wird, trägt die Sprache dazu bei, Rollendistanz und Selbstreflexion des Unterschichtkindes zu verhindern. Ausgeglichen wird die sprachliche Unsicherheit »durch die Maximierung der sozialen Solidarität, durch die Bindung der Gefühle an gesellschaftliche Redensarten und Etiketten, traditionelle Symbole und Sprachformen«33. Vor allem die Familie der Unterschicht, aber nicht nur sie allein, kann ihre Erziehungsaufgabe im Hinblick auf die Erfordernisse des Produktionsprozesses nicht mehr erfüllen.

»Die Familie der bürgerlichen Gesellschaft bedarf mit zunehmender Entfaltung der Produktivkräfte in ihrer Erziehungsaufgabe gesellschaftlicher Unterstützung, da die für die Arbeitswelt notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten aufgrund der ständigen Revolutionierung des Arbeitsprozesses immer weniger von Generation zu Generation in der Familie weitergegeben werden können. «34

Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht beginnt der ständig sich erweiternde Vergesellschaftungsprozeß der Erziehung, der sich in den Bestrebungen, die Vorschulerziehung und die Ganztags-Gesamtschule einzuführen, um so die Unzulänglichkeit der Sozialisation in der Familie im Hinblick auf die Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsmitteln zu mindern, fortsetzt.35

»Wurde mit zunehmender Integration der Gesellschaft durch Auflösung der Agrarstruktur und damit auch des Familienverbandes bei zunehmender Industrialisierung und zunehmender Perfektionierung der Produktionsmittel die Schule immer wichtiger, so liegt das an ihren verschiedenen Funktionen. Außer der Vermittlung der elementaren Fähigkeiten zur Kommunikation, wie Lesen und Schreiben, gehören dazu als wichtigste Aufgaben die der gesellschaftlichen Sozialisation und - eng damit verbunden - die der Ideologievermittlung ... «36

Das überkommene Schulsystem mit seinen bürgerlichen Traditionen hat eine noch verstärkende Wirkung auf schichtenspezifische Sozialisationsprozesse. Das betrifft die Lehrinhalte ebenso wie die Verhaltens- und Interaktionsformen innerhalb der Schule. Die Ansprüche, die die Schule als der erste größere Sozialverband, in den das Kind integriert wird, wenn es die relativ isolierte Familiensphäre verläßt, an das Individuum stellt, lassen sich in zwei Komponenten der Anpassungsfunktion fassen: einmal wird von ihm das »kognitive Erlernen bestimmter Fähigkeiten, wozu auch mathematisches Denken und Abstraktionsfähigkeit gehören«, gefordert, zum anderen das Übernehmen einer Schüler-Rolle, »zu der eine bestimmte Beziehung zum Lehrer gehört« und eine besondere Einstellung zur Arbeit.37 Für den Selektionsprozeß, der im herkömmlichen Schulsystem bald einsetzt und die Kinder weitgehend ihrer sozialen Herkunft nach aufteilt, spielt die Sprache eine entscheidende Rolle sowohl in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten als auch in Bezug auf das Schüler-Lehrer-Verhältnis.

»Der Lehrer übernimmt zu Beginn der Schulzeit für das Kind einen Teil der elterlichen Autorität; um seinen Anforderungen optimal nachzukommen, ist ein Identifikationsprozeß des Kindes mit dem Lehrer nötig; der Schüler macht sich die Erwartungen des Lehrers zu eigen, empfindet sie als berechtigt und folgt ihnen (dementsprechend) mühelos. Dieser Prozeß ist jedoch nur dann ohne Schwierigkeiten möglich, wenn der Lehrer ähnliche Erwartungen hegt wie das Elternhaus, für das Kind also kein Bruch besteht zwischen elterlicher und schulischer Rollenerwartung. Nur in der Mittelschicht ist jedoch genau das der Fall. Dem Unterschichtkind tritt der Lehrer schon auf Grund seiner Sprache von Anfang an als Fremder gegenüber, seine Sprache - sachlicher, formalisierter und abstrakter - wird als unpersönlich, ja feindlich empfunden. «38

So entstehen Gegensätze und Ressentiments, die bei der spezifischen Organisation der Institution Schule kaum aufhebbar erscheinen:

»Der Lehrer deutet die Sprache des Unterschichtkindes als Unfähigkeit und als mangelnde Bereitschaft, das Kind glaubt, der Lehrer sei ihm feindlich gesinnt.«39

Schwere Konflikte für das Kind sind die Folge, denn entweder bleibt es bei seinem bisherigen Sprachverhalten und erhält so nicht die notwendige und erhoffte Anerkennung und Belohnung in der Schule, oder es entfremdet sich durch Anpassung an das Sprachverhalten der Mittelschicht zunehmend seiner primären Bezugsgruppe, der Familie.40

Hinzu treten die kognitiven Schwierigkeiten, die beim Erlernen der Sprache der Mittelschicht auftreten, und nicht zuletzt der »Inhalte, die mit der Sprache verknüpft sind, und die ebenfalls dem Lebensbereich der Unterschichtkinder fremd sind«. Für die Mittelschichtkinder dagegen ist unter funktionalen Gesichtspunkten »die Schule die konsequente Weiterentwicklung der familialen Sozialisation, erweitert durch die Organisation des Klassenverbandes, in dessen Mitte sie dem Erwachsenen, der neuen Identifikationsfigur, nicht mehr isoliert gegenübertreten«.41

Sowohl der unterschiedliche Erziehungsstil der Unterschicht als auch gerade die Inhalte, die die Schule dem Unterschichtkind vorsetzt und die ihm weithin unbekannt oder fremd sind und sinnlos erscheinen müssen, machen es für das Unterschichtkind schwieriger, den Anforderungen nach hoher Motivation nachzukommen. Der in Lese- wie Schulbüchern (besonders auch in Sozial- oder Gemeinschaftskundelehrbüchern) dargestellte Lebensbereich ist fast immer typisch für die Mittelschicht.

Die Verhaltenserwartungen der Lehrer und des Unterschichtschülers decken sich keineswegs: in der Familie war es dem Unterschichtkind möglich, unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ungestraft anstreben zu können; es war an direkte Reaktionen und an bestimmte vorgeschriebene Verhaltensweisen gewöhnt. In der Schule wird dagegen Befriedigungsaufschub verlangt, die Internalisierung von Werten gefordert und Sanktionen werden ausgesprochen, deren Begründung undurchschaubar bleiben muß. Die Widersprüche zwischen dem in der Schule vermittelten harmonistischen Weltbild und dem in der Unterschichtfamilie oft vermittelten dichotomischen Gesellschaftsbild einerseits und das Konkurrenzverhalten, das im sozialen System der Schulklasse vorherrscht, andererseits, sind für den Unterschichtschüler kaum objektivierbar. Solidarität, die im Feld der primären Bezugspersonen vom Unterschichtkind erfahren wurde, ist der Schule ein fremder Begriff.

Die Organisation der Schule selbst verhindert die Realisierung des tradierten und deklarierten bürgerlichen Erziehungsideals. Dazu trägt bei, daß sie durch Aufgliederung des Stoffes in scheinbar zusammenhanglose Fächer dessen tatsächlichen Sinnzusammenhang zerstört und so »die Welt angstfrei, erlebbar, beherrschbar«42 macht, also tatsächlich bestehende Konflikte schlicht verleugnet, und daß sie im organisierten Unterricht die organisatorische und psychologische Disposition so erstellt, daß die Beziehung zwischen Lehrer und Schülern entpersönlicht wird, und der Schüler in maximale Abhängigkeit vom Lehrer gerät.

Dabei setzt der Erziehungsauftrag der Schule »die Arbeit der Triebkontrolle, die in der Familie begann, fort; Lehrergewalt ist Teil der väterlichen Gewalt, kindlicher Gehorsam wird zur Disziplin des Schülers. Die frühen, konkret-sinnlichen Affekte aus dem Kind-Vater-Verhältnis werden mit den Mitteln der Institution gebrochen und sublimiert, also auf eine Ebene höherer, kultureller Zielsetzungen gehoben . . . (Die Triebkontrolle) leistet der Lehrer einesteils objektiv, indem er zum bewußten und unbewußten Identifikationsobjekt der Schüler wird, darüber hinaus auch subjektiv mit dem von der unmittelbaren Machtfülle des Vaters abstrahierten Recht, in persönlichem Ermessen durch Noten und Versetzung Einfluß auf das Verhalten des Schülers auszuüben. «43

Die Wirklichkeit der Lehrerrolle, die sich im zwiespältigen, unsicheren Standort des Lehrers »zwischen persönlichem Ermessen« in der einzelnen Unterrichtssituation und »eingeschränktem Freiheitsspielraum« durch die konfliktreiche Beamtenstellung festmachen läßt, wird aber vornehmlich nur dem Mittelschichtkind offenbar und reflektierbar:

»Der Schüler sieht sich einer merkwürdig verunsicherten Lehrautorität gegenüber, deren Verfügungsgewalt über seinen sozialen Aufstieg er einerseits zu fürchten hat, die ihm andererseits als schwach und abhängig von Institutionen erscheinen muß.«44

Für die Schüler der Mittelschicht wird der Lehrer (wie vorher der Vater) in seiner (von ihm selbst oft unreflektiert bleibenden) Abhängigkeit als Identifikationsobjekt unglaubwürdig.

»Er unterwirft und bemächtigt sich daher unpersönlichen, irrationalen, endlich abstrakten Autoritäten, die nur notdürftig personifiziert werden. ... Die möglichst vollständige Monopolisierung der Trieb- und Interessenbefriedigung der Schüler beim Lehrer ... als institutioneller Effekt dieser Versammlung (i. e. Gleichaltriger in einer Klasse) scheitert durch den Verfall der Lehrautorität. Die vom Lehrer abgelösten Aggressionen suchen neue Objekte und treffen sie zunächst in der Klassenwelt. Das Projektionsziel sind die Andersartigen, . . . , die unangepaßten Phantasten oder die nicht zur ›peer group‹ Gezählten, etwa Arbeiterkinder in einer höheren Schule besserer Stadtviertel.«45

Für das Unterschichtkind sind diese Prozesse aufgrund seiner Erziehung und Sozialisation im Primärbereich kaum durchschaubar; beim Lehrer führen die Defensivmechanismen, die die Institution Schule als eine hierarchisch geordnete Verwaltungsbürokratie dem einzelnen Lehrer zur Erhaltung der bestehenden Verhältnisse zur Verfügung stellt, sowie seine eigene schichtspezifische Sozialisation (Herkunft aus der Mittelschicht oder Aufstieg aus der Unterschicht; Mittelschichtbewußtsein) zur Unfähigkeit, psychosoziale Aspekte der Bildungs- und Erziehungsprozesse oder schichtenspezifische Sozialisationsvoraussetzungen bewußt im Unterrichtsprozeß zu berücksichtigen oder gar aufzugreifen; die Folge ist, daß der Lehrer gerade die Mißerfolge der Unterschichtkinder oft nicht als Konsequenz des eigenen Verhaltens oder Handelns wahrnimmt.

»Die Mehrheit der Lehrer projiziert ihren Mißerfolg nach außen, d. h. sie suchen die Schuld für das Versagen des schlechten Schülers bei diesem selbst, weil er faul, unaufmerksam, charakterlich schlecht ist, oder bei seiner Familie, die ihn nicht richtig erzieht und zur Arbeit anhält.46

Der vorherrschende, vorwiegend autokratische Unterrichtsstil betrifft die Unterschichtkinder stärker als die Mittelschichtkinder, da ihre Art der Anpassung ohne Rollendistanz erfolgt. Da sie Solidarität und Anerkennung weder beim Lehrer noch bei den Mitschülern aus der Mittelschicht finden, bleiben die ›peer groups‹, die schichtenhomogen zusammengesetzten Gleichaltrigengruppen, oft die einzige Instanz, in der Identifikationsprozesse ungebrochen, doch sehr häufig dann als Überidentifikation, ablaufen können. Dadurch können auch und besonders die nicht institutionalisierten Sozialisationsinstanzen wie Werbung, Massenmedien und die institutionalisierten Instanzen des Freizeitbereichs einen stärkeren Einfluß auf das Unterschichtkind gewinnen.

Neben dem Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer und den Beziehungen zu den Mitschülern hat das Verhältnis der Eltern zum Lehrer, zur Schule, zum Bildungswesen überhaupt Einfluß auf die Sozialisation der Kinder durch die Schule wie auf ihre Erfolgschance. Unterschichteltern zeigen sich wesentlich desinteressierter am schulischen Erfolg ihrer Kinder als Mittelschichteltern.

»Die Einstellung der Unterschichteltern ist vielfach als Bildungsabstinenz charakterisiert worden, die zurückzuführen ist auf Informationsmangel wie auch auf eine affektive Distanz gegenüber dem höheren Bildungswesen. Die affektive Distanz ist erklärbar als Angst vor der Entfremdung des Kindes, als Resignation gegenüber den erfahrenen Klassenschranken, die man doch nicht überwindet, oder auch als traditionales Verhaftetsein im Beruf ... Diese affektive Distanz wirkt dann wieder auf die Informationsbereitschaft zurück; so kommen Eltern, die kaum über die schulischen Möglichkeiten ihrer Kinder informiert sind, relativ selten zu Elternversammlungen, die den Informationsmangel beheben könnten. Kontakte kommen häufig nur auf Betreiben des Lehrers hin zustande.47

Hinzu kommt die empfundene Unfähigkeit, dem Kind ausreichend helfen zu können.

Konflikte zwischen familialer und schulischer Erfahrung wie auch finanzielle Gründe bewirken, daß bei der Gefahr, eine Klasse wiederholen zu müssen, Unterschichtkinder, die auf weiterführende Schulen gehen, häufiger die Schule ganz verlassen als Mittelschichtkinder, bei denen ein weiteres Jahr nicht so sehr ins Gewicht fällt oder doch im Interesse des »sozialen Aufstiegs« auch unter großen Opfern ermöglicht wird.

Dient so die Institution Schule als Instrument schichtenspezifischer Selektion, ist der wesentlichste Selektionsfaktor aber immer noch im überkommenen dreigliedrigen Schulsystem mit seinen geringen Übergangsmöglichkeiten und starren Abgangsqualifikationen zu suchen.

Es ist kein Zufall, daß die Reformbemühungen der letzten Jahre gerade an der äußeren Struktur des Schulsystems ansetzten, denn »das gegenwärtig noch vorherrschende dreigliedrige Schulsystem (Haupt-, Real- und Oberschule) mit seinen sozial privilegierten Bildungsgängen ist wegen seiner starren Schullaufbahnen, den geringen Differenzierungsmöglichkeiten, den anachronistisch an Schullaufbahnen festgemachten Bildungszielen, seiner veralteten, ineffizienten Unterrichtsorganisation und seiner hierarchisch starren, innovationshemmenden Verwaltung den Anforderungen«48 des ökonomischen Systems nicht mehr gewachsen.

»Angesichts eines stets steigenden Surplus und zunehmender Kapitalkonzentration fließen - im Zuge systemgerechter Verwertung von Gewinnen - immer größere Kapitalien in die Entwicklung kostensparender oder neuer Produktionsverfahren. So müssen unter Einsatz außerordentlicher Mittel neue Technologien entwickelt und mit technischen Innovationen von großer Vielfalt in den Verwertungsprozeß des Kapitals mit einbezogen werden. Das aber ist für das Bildungswesen von größter Bedeutung. ... Wissenschaft und Technologie unterwerfen, indem sie die Faktoren wirtschaftlichen Wachstums, Kapital und Arbeit, zunehmend determinieren, das Bildungswesen als Produktionsstätte von Wissen und wirtschaftlich verfügbarer Intelligenz unmittelbar ökonomischen Interessen.«49

Macht dieser Aspekt vornehmlich Reformen in den höheren Stufen des Bildungswesens (Universität) erforderlich, so revolutioniert »Wissensproduktion, transformiert in technischen Fortschritt, . . . auf dem Weg über ihre wirtschaftliche Verwertung die Bedarfsstruktur des Arbeitsmarktes«.50

»Hält die Qualifikationsstruktur der Arbeitskraft nicht Schritt mit der Entwicklung der Forschung und Entwicklung, dann erweisen sich die Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen als Fehlinvestitionen: ihre Ergebnisse können mangels Qualifikation der Arbeitskräfte nicht in der Produktion angewendet werden. . .. Das Bildungssystem bestimmt auf lange Sicht die Qualifikationsstruktur der Arbeitskraft und damit die Realisierbarkeit von gesicherten Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in der Produktion.51

Diese Funktion kann das überkommene Schulsystem zweifellos nicht erfüllen; die Gesamtschule als neues Reformschulsystem ist dazu eher in der Lage; sie hat zudem den Vorteil, ähnliche Qualifikationen vermitteln zu können wie vergleichbare Schulsysteme in den anderen kapitalistischen Industrieländern, vor allem in den USA. Der systemgefährdende Demokratisierungsdruck von unten, der sich gegen das bisherige Schulsystem und seine rückständige Ideologie wandte, kann mit der Gesamtschulkonzeption zunächst einmal stabilisierend aufgefangen werden. Formale Demokratisierung erfolgt durch ideologische Zugeständnisse: ›Mitbestimmung‹, ›Chancengleichheit‹, ›kompensatorische Erziehung‹ zeigen als Stichworte die Anpassung der Ideologie an veränderte ökonomische Erfordernisse. Die Erfahrungen mit Gesamtschulsystemen machen aber deutlich, daß mit der angeblichen Enthierarchisierung des Schulsystems keinesfalls eine Demokratisierung der interinstitutionellen Prozesse, eine Emanzipierung von Lehrern und Schülern, eine dezidiert emanzipatorische Veränderung der Lehr- und Lerninhalte einhergehen soll.52

Gerade die vorgesehene Ausklammerung der Berufsausbildung auch aus dem reformierten staatlichen Schulsystem macht sichtbar, daß die angestrebte Reform wieder nur partikularen Interessen entgegenkommt. Für die Mehrheit der Jugendlichen bleibt alles wie es ist:

»berufliche - und damit immer auch soziale und politische - Sozialisation nach den pädagogisch nicht kontrollierten Normen eines kapitalistischen Wirtschaftsunternehmens, Regulierung des gesellschaftlichen Aufstiegs ... nach den Maßstäben der Privatwirtschaft, geringe Dispositionschancen für Arbeiter und Angestellte infolge zu enger Ausbildung und nicht zuletzt die häufig als ›Lehrlingszüchterei‹ kritisierte Ausbeutung von jugendlicher Arbeitskraft. «53

Wie im sozialen System des Betriebs scheint auch durch die Gesamtschule

»die soziale Integration und Einübung des erforderlichen Funktionsgehorsams gewährleistet zu sein: Die technokratisch dynamische Organisationsstruktur mit ihrer partikularen Rationalität, kooperative Arbeitsweisen, scheindemokratische harmonisierende Entscheidungsrituale, Schülermitbestimmung und kollegiale Schulleitung, die Selbstzensur, kompensatorisches ›social training‹, integrative Lernziele, objektivistische Selektionsriten und ein konkurrenzstiftendes Leistungsprinzip versprechen die geforderte Anpassung zu bewirken und die gefährliche Solidarisierung der Opfer zu verhindern«.54

An die fundamentale Berufsausbildung bzw. die Schule schließt sich meist die Bundeswehr an.

Eine Armee ist ein wichtiges Instrument zur Überbrückung und Verschleierung der Widersprüche des Systems gesellschaftlicher Reproduktion, indem sie die Austragung sozialer Konflikte im Innern sowohl durch die Ideologie der Kameradschaft, des Zusammenstehens gegen den angeblichen oder tatsächlich vorhandenen äußeren Feind (der auf diese Weise mit produziert wird) einerseits und durch die davon nicht zu trennende (potentielle) Gewaltanwendung (nach innen z. B. in der BRD Notstandsgesetze, nach außen ›Kampfbereitschaft zur Verteidigung des Vaterlandes‹) unterdrückt. Die Armee wirkt als Sozialisationsinstanz im Sinne unkritischer Anpassung, indem sie zur Stärkung der ›Kampfkraft‹ gesellschaftliche Konflikte negiert, Kritik tendenziell als ›Zersetzung‹ betrachtet. In der Armee werden Denk- und Verhaltensweisen weiter verfestigt, die ein Funktionieren des Einzelnen gemäß den Anweisungen der je Vorgesetzten (ob nun in der Armee oder im zivilen Bereich) zum Inhalt haben. Kiesingers Satz: »Die Bundeswehr ist die Schule der Nation« trägt der Realität Rechnung, ist zutreffender als die Proteste derer, die glaubten, das leugnen zu sollen.55

Unter den Bedingungen der Konfrontation zweier Gesellschaftssysteme kommt der Armee und ihrem ›Bedarf‹ an immer neuen Waffensystemen eine eminente und unmittelbare ökonomische Funktion zu:

Rüstung und Rüstungsforschung dienen zur Abschöpfung von Mehrwert, der in anderen Industrien nicht mehr profitabel investiert werden kann, und damit zur staatlichen Absicherung der gegebenen Produktionsverhältnisse und Relation von Kaufkraft und Warenangebot auf dem Markt. Die aus Steuergeldern finanzierte Konsumtion von Rüstungsgütern und anderen von der Armee verbrauchten Produkten sichert die gegebene Produktionsweise durch die Ausnutzung von tendenziell arbeitslosen Arbeitskräften und sonst ungenutzten Produktionskapazitäten, durch die dadurch bedingte Kaufkrafterhöhung, die wiederum den Konsumgüterindustrien ein hohes Preisniveau und also optimale Profitmaximierung ermöglicht; auf diese Weise kann das Überangebot auch der Konsumgüterindustrie verkauft werden.56

Entsprechend dem Entwicklungsstand der in der Armee verwendeten technischen Hilfsmittel sind die zu ihrer Bedienung notwendigen Qualifikationen im Vergleich zum gesellschaftlichen Standard relativ hoch.

Die Armee reagiert aber nur sehr träge auf die immensen technischen Veränderungen und die mit ihnen verbundenen neuen Erfordernisse. So steht den funktionalen Notwendigkeiten wie Selbstverantwortlichkeit, Initiative und hohen Spezial-Qualifikationen die völlig veraltete Ideologie des unbedingten Gehorsams, die Abhängigkeit und Unselbständigkeit der Soldaten gegenüber.

Die überholte und - gäbe es nicht informelle Kommunikationskanäle - handlungsunfähige, stark differenzierte hierarchische Struktur widerspricht funktionalen Erfordernissen, wird aber nur sehr langsam verändert.

Für den Soldaten kann so der Widerspruch zwischen den vorhandenen militärischen Herrschaftsverhältnissen und der Entwicklung der Technik und ihren Erfordernissen - die Divergenz von reaktionärer Institution und reaktionärer Ideologie einerseits und Erfordernissen der Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsmitteln andererseits -, sowie zwischen reaktionärer militärischer Realität und ›Draußen‹ betonten bürgerlichen Idealen deutlich werden.

Weiterhin kann er die Fragwürdigkeit der ›Verteidigung der Demokratie‹ mit einer Armee, in der eine veraltete Hierarchie und mit ihr veraltete Autoritätsverhältnisse weiterbestehen, erkennen. Versuche, die militärische Struktur (z. B. durch die Errichtung parallel verlaufender, funktional bestimmter Organisationsstrukturen und das Einplanen informeller Kommunikation) und mit ihr die Ideologie (z. B. durch die Einführung der Auftragstaktik oder - in der Bundeswehr - die Propagierung der in sich widersprüchlichen ›Inneren Führung‹) zu verändern und so an die technischen Erfordernisse anzupassen, hatten wegen des Herrschaftsanspruchs des traditionalistischen Offizierskorps nur geringen Erfolg und blieben sehr unvollständig. Selbst die Intensivierung der Qualifikationsvermittlung stößt auf Widerstand.57

Die hier nur skizzenhaft beschriebenen Sozialisationsinstanzen versuchen auf unterschiedliche Weise, den vom Verwertungsinteresse des Kapitals wesentlich bestimmten gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden: einen Menschen ›auszubilden‹,

»der sich den gesellschaftlichen Autoritätsverhältnissen anpaßt und sich dabei im Besitz individueller Freiheit wähnt. Die Betonung des Prinzips der Freiheit muß immer mehr Raum greifen, je stärker das Gesellschaftssystem als System von Unfreien durch die Forderungen der Unfreien potentiell bedroht ist. Solange der objektiv Unfreie sich aber subjektiv frei fühlt, wird er auf diese Forderungen verzichten.«58

Die Ausbildung des autoritären Charakters ist bestimmt durch die Unterordnung vorhandener Triebenergien unter vorgegebene, angeblich unumgänglich notwendige Anforderungen und das Zurückstellen individueller oder auch gruppen- und klassenspezifischer Bedürfnisse und Forderungen unter das den Interessen der Herrschenden entsprechend definierte ›Gemeinwohl‹ (z. B. ›Recht und Ordnung‹), den Verzicht auf die Durchsetzung emanzipatorischer Interessen.59

Aggressive Verhaltensweisen als Folge derartiger Versagungen charakterisieren das Wirksamwerden von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten und Gruppen, die den Anforderungen nicht mehr gerecht werden können oder wollen - sog. ›Randgruppen‹. Ihnen wird Verachtung, Feindseligkeit und Haß entgegengebracht, sie sind die Opfer manifester oder ›nur‹ latenter Verfolgung. Vorurteil ist eine nur selten mit den herrschenden Normen unvereinbare Verallgemeinerung und Fehlinterpretation, die einer Gruppe - der der ›Urteilende‹ sich selber zurechnet - Überlegenheit (Stärke, Macht, Bessersein) gegenüber einer ›out-group‹ zubilligt. Vorurteile werden von den Sozialisationsinstanzen selten kritisch thematisiert und bearbeitet, sondern in der Regel stärker oder schwächer oder auch nur durch Außerachtlassung einbezogen in Lernprozesse, die ja der Einzelne nur selten reflektiert; sie verändern sich in ihrer Intensität und in Bezug auf unterschiedliche Zielgruppen, die zu out-groups gestempelt werden, je nach den Interessen der Stabilisierung der Struktur und Funktionsweise des sozialen Systems, dem die Vorurteile als Ideologie dienen. Sie sind Mittel zur Machtausübung und Manipulation, damit in der Abgrenzung von diffamierten Minderheiten oder auch dämonisierten äußeren ›Feinden‹ der Schein der Interessenidentität von Herrschenden und Beherrschten aufrecht erhalten wird. Die Möglichkeiten, Aggressivität gegen Minderheiten zu lenken, hängen ab von der jeweils - begründet oder unbegründet - empfundenen Bedrohung (die Methode der Projektion ist in diesem Zusammenhang vielfach nachgewiesen), die von der ›Feind-Gruppe‹ auf die behaupteten Interessen des angeblichen ›Gemeinwohls‹ (der Rechtschaffenen, Vernünftigen etc.) ausgeht. Der so ausgerichtete Haß gegen ›das Andere‹, gegen Minderheiten, der um so stärker ist, je repressiver die Lebensverhältnisse sind, führt dann u. U. zur Anpassung der angefeindeten oder verachteten Minderheit an die Normen, die die Mehrheit vertreten zu müssen glaubt, und zur Internalisierung der Vorurteile. Die Mehrheit sieht das gesellschaftliche Normen- und Wertsystem bestätigt und gerechtfertigt. Die scheinbare Interessenidentität real antagonistischer Interessen bleibt erhalten.

Sozialisation findet nicht nur in den offiziell mit ihr betrauten Institutionen -Famile, Schule, Armee und auch Betrieb - statt, sondern auch mit Hilfe anderer Vermittlungsinstanzen, etwa den Medien des Freizeitbereichs.

»Erzogen wird von der Clique, der man sich anschließt, erzogen wird durch die sogenannte ›Bewußtseinsindustrie‹, also Radio, Fernsehen, Film, Zeitungen und Zeitschriften, Comic-Hefte und Bücher; durch Werbung, Schlagertexte . . . und was es da jeweils sonst noch gibt.«60

Alle diese Medien machen Politik, denn »was da geschrieben, gesprochen, gesungen wird, macht Reklame für die Gesellschaft, wie sie ist«61, oder doch für die ihr beschiedene herrliche Zukunft. In der Freizeit findet die Regeneration der   Arbeitskraft für den Produktionsprozeß statt. Indem das privatkapitalistische    Interesse den Ablauf der Produktion und die Verwertung des Produzierten bestimmt, diktiert es auch den Ablauf der Freizeit. Mit der Steigerung der Produktivität geht die nominale Verkürzung der Arbeitszeit einher und die Verschiebung von der physischen zur psychischen Belastung. Die Funktion der Freizeit ist es, diese Belastung auf schichtenspezifisch unterschiedliche Weise zu kompensieren und zugleich das steigende Warenangebot zu konsumieren.

Die sich entsprechend der zunehmenden Arbeitsteilung differenzierende Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft kommt im Freizeitverhalten deutlich zum Ausdruck:

1. Die Möglichkeit, über berufliche Fortbildung durch Eigenaufwand in lohnarbeitsfreier Zeit (z. B. durch Schulungen) die Qualität der eigenen Arbeitskraft und also deren Verkaufsbedingungen als Voraussetzung erhöhten Konsums und Sozialprestiges im Sinne der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, wird immer häufiger wahrgenommen. Allerdings wird zugleich aus der realen Aufstiegschance unter frühkapitalistischen Verhältnissen unter den gegenwärtigen Bedingungen einer sich durchsetzenden Monopolisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Aufstiegsideologie. Doch die Fiktion des sozialen Aufstiegs bindet ungeheure Energien, hält die Einzelnen im Streben nach der Realisierung schichtenspezifischer Vorstellungen von Erfolg bei der Stange.

2. Schwarzarbeit oder Überstunden, oft rationalisiert durch finanzielle Überlegungen - Gesichtspunkte des sozialen Aufstiegs -, sind schlichte Fortsetzung der Erwerbstätigkeit und verschleiern unterm Schein der Freiwilligkeit verinnerlichtes Konkurrenz- und Prestigedenken (wenn man einmal von denen, die nur so ihr Existenzminimum ›verdienen‹ können, absieht; man vergißt sie häufig). Do-it-yourself-Tätigkeit verspricht Selbstverwirklichung durch selbstbestimmte Produktion; doch wie andere Hobbys bleibt sie integriert in den Zusammenhang der Kapitalverwertung durch fremdbestimmte Produktion und Konsumtion: die Hobbyindustrie bestimmt unter Aufrechterhaltung der Illusion von ›freier‹ Arbeit durch ihr Materialangebot und Marketing die Mittel und Formen der Tätigkeit. Häufig legitimiert sich Freizeitaktivität durch das Ansammeln von Werten (Briefmarken usw.) und den Hinweis auf die Möglichkeit zu sparen (die Kosten für Handwerker z. B.).

3. Der Konsum moderner Freizeitmittel der Kulturindustrie, die von ihrem Anspruch her und der Erwartung an sie zerstreuen soll und dabei doch nie verleugnen kann, daß sich bei der Arbeit eingeübte Handlungsabläufe in der Konsumsphäre perpetuieren, wird mit der Erledigung des Freizeitprogramms zum Konsumzwang. Wie stark dieser bereits ist, zeigt die Verpflichtung zur Kenntnis des Serienkrimis im Fernsehen und der Rekorde des Leistungssports und zum Vorweisen einer anständigen Urlaubsbräune für den, der mithalten will. Der Freizeitsport des Amateurs z. B. ist längst losgetrennt zu sehen von der Freude am eigenen Körper und der Lust, ihn spielerisch zu betätigen. Sport ist selbst zur Arbeit geworden, zum permanenten Wettkampf und »Fitness für die Arbeit ist wohl einer der geheimen Zwecke des Sports«62. Freizeit- und »Bewußtseinsindustrie« (in einer kapitalistischen Gesellschaft bezeichnet das Suffix ›-industrie‹ sehr genau das Prinzip der Aneignung auch dieser Produktion) als Sozialisationsinstanz sorgen mit ihrem Konsumangebot gleichzeitig für die Stabilisierung von Verhaltensmustern, denen die Verstärkung soziologischer Phantasielosigkeit nicht abgesprochen werden kann. Die Funktionalisierung individueller Entfaltung im Sozialisationsprozeß dieses Systems für die Erhaltung desselben ist somit garantiert.

In der warenproduzierenden Gesellschaft geht die Produktion von Gebrauchswerten immer vom Tauschwertstandpunkt aus; das Kapital sieht im Gebrauchswert nur ein Mittel zum Zweck der Kapitalverwertung - d. h. der profitablen Umsetzung über den Markt - und sucht sich jenen deshalb unterzuordnen.

Ein ökonomisches System, dessen Produktion bestimmt ist durch Konkurrenz, Profitinteresse und die Möglichkeit, Warenüberschuß zu schaffen, bleibt nur dann bestehen, wenn das Interesse des Käufers an der Ware nicht mehr der Gebrauchswert allein ist. Die Werbung leistet dies, indem sie den allgemein gültigen Gebrauchswert zugunsten des Verwertungsinteresses verdrängt, und zwar in der Schaffung eines Gebrauchswertscheins, der die »Triebsehnsucht«63 der vom Gebrauchswertstandpunkt ausgehenden Käufer anspricht, die Erfüllung dieser Triebsehnsucht mit dem Erwerb der Ware verspricht.

Bedürfnisbefriedigung wird also nicht vom Gebrauchswert versprochen, sondern vom Gebrauchswertschein. Dieser kann nicht beliebig gesetzt werden, sondern hat sich immer durch Wertvorstellungen und Verhaltensnormen hindurch zu beziehen auf die im jeweils ablaufenden Sozialisationsprozeß versagte Trieberfüllung. Schichtenunterschiedlich liegen hier Vorstellungen von Glück vor, deren Erfüllung der Gebrauchswertschein verheißt.

»Industriekapitalistisch verwertbar ist die sexuelle Sinnlichkeit nur in abstrahierter Form. Im Zustand allgemeiner sexueller Unterdrückung liegt der Gebrauchswert des bloßen sexuellen Scheins etwa in der Befriedigung der Schaulust. Diese Befriedigung mit einem Gebrauchswert, dessen spezifische Natur es ist, Schein zu sein, kann Scheinbefriedigung genannt werden. Für die Scheinbefriedigung mit sexuellem Schein ist charakteristisch, daß sie die Nachfrage nach ihr zugleich mit der Befriedigung reproduziert und zwanghaft fixiert ... « »(repressive Befriedigung)« ... »Durch diese Art scheinhaft widerstandsloser Befriedigung droht die Möglichkeit der direkten Lust nun vollends amputiert zu werden. Hier wirkt die für die massenhafte Verwertung allein geeignete Form des Gebrauchswerts zurück auf die Bedürfnisstruktur der Menschen. «64

Anmerkungen:

*) Das Unterrichtsmodell ›Rassenkonflikt in den USA‹ muß aus verschiedenen Gründen in zwei Teilbänden erscheinen.

1 Alfred Pressel, Sozialisation, in: Beck/Clemenz u. a., Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1970, S. 134

2 Ebd.

3 Ebd.

4 Alfred Pressel, a. a. O., S. 135

5 Ebd.

6 Alfred Pressel, a. a. O., S. 136-7

7 Alfred Pressel, a. a. O., S. 137

8 Alfred Pressel, a. a. O., S. 140-1

9 Alfred Pressel, a. a. O., S. 141

10 Ebd.

11 Max Horkheimer, Autorität und Familie, in: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt-Hamburg 1970, S. 206

12 Eric H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 19652, S. 241

13 Siehe Heinrich Roth, Die wichtigsten Ergebnisse aus dem Buch ›Begabung und Lernen‹, in: Basil Bernstein u. a., Lernen und soziale Struktur, Amsterdam 1970, S. 110

14 Siehe Ulrich Oevermann, Soziale Schichtung und Begabung, in: Bernstein u. a., a. a. O., S. 122

15 Ebda.

16 Max Horkheimer, a. a. O. (Anm. 11), S. 208

17 Vgl. Ebd., S. 209

18 Ulrich Oevermann, Schichtungsspezifische Formen des Sprachverhaltens und ihr Einfluß auf die kognitiven Prozesse, in: Basil Bernstein u. a., a. a. O., S. 149

19 Ebda.

20 Horst Petri, Die randständige Jugend, in: Schäfer/Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat, Frankfurt 1969, 2 Bde., Bd. I, S. 90 f.

21 Wilfried Gottschalch/M. Neumann-Schönwetter/G. Soukup, Sozialisationsforschung, Frankfurt 1971, S. 92

22 Siehe Ulrich Oevermann, a. a. O. (Anm, 14), S. 122

23 Ebd.

24 Wilfried Gottschalch u. a., a.a.O., S. 92

25 Hubert Bacia, Erziehungs- und Bildungsprozesse, in: Schäfer/Nedelmann (Hrsg.), a. a. O. (Anm. 20), Bd. 2, S. 307

26 Alexander Mitsdierlich, Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft, München 1969, S. 180

27 Vgl. Autorenkollektiv, Sprachbarrieren, Hamburg 1970, S. 34

28 Theodor W. Adorno/Walter Dirks (Hrsg.), Soziologische Exkurse, Frapkfurter Beiträge zur Soziologe, Bd. 4, Frankfurt 1956, S. 127 (verbilligter Nachdruck 1971)

29 Alfred Pressel, a. a. O. (Anm. 1), S. 284

30 Vgl. Wilfried Gottschalch, u. a., a. a. O. (Anm. 21), S. 86

31 Vgl. Ulrich Oevermann, a. a. O. (Anm. 14), S. 122

32 Ulrich Oevermann, a. a. O. (Anm. 18), S. 154

33 Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Frankfurt 19716, S. 78

34 Wilfried Gottschalch u. a., a. a. O., S. 33 f.

35 Vgl. Johannes Beck, Demokratische Schulreform in der Klassengesellschaft?, in: Beck/Clemenz u. a., a. a. O. (Anm. 1), S. 90 ff.

36 Sprachbarrieren, a. a. O. (Anm. 27), S. 50

37 Ebd., S. 52

38 Ebd., S. 52 f.

39 Ebd.

40 Siehe den Ansatz zu einer dieses Dilemma überwindenden Konzeption in: Armin Gutt/Ruth Salffner, Sozialisation und Sprache. Didaktische Hinweise zu emanzipatorischer Sprachschulung, Frankfurt 1971

41 Sprachbarrieren, a. a. O., S. 53

42 Peter Fürstenau, Zur Psychoanalyse der Schule als Institution, in: Das Argument, 29 (1964),S. 73

43 Hubert Bacia, a. a. O. (Anm. 25), S. 296

44 Ebd., S. 298

45 Ebd., S. 299

46 Elfriede Höhn, Der schlechte Schüler, München 1967, S. 106

47 Sprachbarrieren, a. a. O. (Anm. 27), S. 59

48 Johannes Beck, a. a. O. (Anm. 35), S. 98

49 Gernot Koneffke, Integration und Subversion, in: Das Argument, 54 (1969), S. 393

50 Ebd.

51 Elmar Altvater, Krise und Kritik - zum Verhältnis von ökonomischer Entwicklung und Bildungs- und Wissenschaftspolitik, in: Stefan Leibfried (Hrsg.), Wider die Untertanenfabrik, Köln 1967, S. 53

52 Zur historischen Entwicklung des Bildungssystems siehe: Martin Baethge, Ausbildung und Herrschaft, Frankfurt 1970, S. 91 ff.

53 Ebd., S. 177

54 Johannes Beck, a. a. O. (Anm. 35), S. 106

55 Vgl. dazu: Hans-Helmut Thielen, Der Verfall der Inneren Führung. Politische Bewußtseinsbildung in der Bundeswehr, Frankfurt 1970

56 Siehe Fritz Vilmar, Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Frankfurt 19705, und Werner Hofmann, Die Säkulare Inflation, Berlin 1962, und Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt 1968

57 Siehe auch Wido Mosen, Eine Militärsoziologie, Neuwied 1967

58 Ingrid Sdimiederer, Die Bedeutung sozialer Normen im Erziehungsprozeß, in: Wolfgang Abendroth (Hrsg.), Einführung in die Politische Wissenschaft, Bern und München 1968, S. 326

59 Zum autoritären Charakter: Vgl. Michaela von Freyhold, Autoritarismus und politische Apathie, Frankfurt 1971

60 H.-J. Haug/Hubert Maessen, Was wollen die Lehrlinge?, Frankfurt-Hamburg 1971, S. 48

61 Ebd., S. 50

62 Theodor W. Adorno, Freizeit, in: Stichworte, Frankfurt 1969, S. 65 - Vgl. auch Gerhard Vinnai, Fußballsport als Ideologie, Frankfurt 1970

63 Wolfgang Fritz Haug, Zur Kritik der Warenästhetik, in: Kursbuch 20 (1969), S. 140 ff.

64 Ebd., S. 157